Beschreibung
Bei einem Gang durch die Lutherstadt Wittenberg, der sich nicht auf die enge, über Jahrhunderte durch den Festungsgürtel an der Ausdehnung gehinderte Kernstadt beschränkt, sieht der aufmerksame Besucher Villen und Mehrfamilienhäuser mit prächtigem Fassadenschmuck, imposante Schul- und Verwaltungsgebäude sowie, insbesondere im Westen, ehemalige Fabrikanlagen, die ihren ursprünglichen Zweck hinter reich gegliederten Fassaden verstecken. Es handelt sich ganz überwiegend um denkmalgeschützte Bauten aus dem wilhelminischen Kaiserreich. Noch heute ist zu erahnen, dass die nach der Entfestigung in den Jahren von 1880 bis 1914 entstandenen neuen Stadtteile und Grünanlagen Modernität und Wohlstand in bis dahin unbekanntem Ausmaß nach Wittenberg brachten. Ein Beobachter aus den 1930er Jahren konstatierte eine »totale Wandlung der wirtschaftlichen Verhältnisse« während der Gründerzeit und der folgenden Epoche des Jugendstils. Die steinernen und gartenbaulichen Zeugnisse sind geblieben, aber dennoch spielt die Kaiserzeit keine besondere Rolle im historischen Gedächtnis der Stadt. Dies zu ändern, ist das Ziel des vorliegenden Buches. Es besteht aus drei reich bebilderten und umfangreich kommentierten Texten. Der erste, »Erinnerungen an Wittenberg um 1900 herum«, stammt von Hans Ledien (1887-1963), dem Schwager des bekannten Wittenberger Arztes Dr. Paul Bosse, und wurde 1958 zu Papier gebracht, um seinem Neffen, Bosses Sohn Günther, der nach dem zweiten Weltkrieg nach Schweden ausgewandert war, vom damaligen Alltag aus der Perspektive des Kindes und Jugendlichen zu erzählen. Bei dem zweiten Text handelt es sich um einen Nachdruck einer siebenteiligen Serie über das Stadterweiterungsgebiet Lindenfeld, die 1962 in einer heimatgeschichtlichen Zeitschrift erschien. Der Verfasser war Johannes Spremberg (1910-1979), zeitweilig Leiter der Fachgruppe »Geschichte und Heimatkunde« im Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands, aus dessen Feder Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre einige stadtgeschichtliche Betrachtungen erschienen sind. Den Abschluss bildet ein Artikel aus dem Wittenberger Tageblatt vom März 1900 über die Abschlussfeier der Abiturienten des Melanchthon-Gymnasiums, der Einblicke ermöglicht in den patriotischen (Un-)Geist jener Jahre.
Autorenportrait
Prof. Dr. Hans-Jürgen Grabbe, geb. 1947, ist emeritierter Universitätsprofessor für Angloamerikanische Kulturwissenschaft. Er studierte Geschichte und Anglistik in Hamburg und habilitierte sich dort 1990. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die transatlantische Migration und die Geschichte der deutsch-amerikanischen Beziehungen. Nach beruflichen Stationen in Hamburg, Kassel, Halle und Oldenburg lehrte er ab 1994 erneut an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und gründete 1995 das Zentrum für USA-Studien an der Stiftung Leucorea in Wittenberg. Prof. Grabbe ist Herausgeber der Zeitschrift »American Studies Journal« und der Schriftenreihe »European Views of the United States«. Er war Präsident der Deutschen Gesellschaft für Amerikastudien (Ehrenmitglied seit 2013) und der European Association for American Studies. Sein Engagement für die Förderung der Wissenschaftsbeziehungen auf nationaler und europäischer Ebene sowie der deutsch-amerikanischen Beziehungen wurde 2008 mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande gewürdigt. Hans-Jürgen Grabbe lebt seit mehr als zwanzig Jahren in Wittenberg. Im Mitteldeutschen Verlag erschien 2019 sein Buch »Verleumdet, verfolgt, vertrieben. Der Wittenberger Arzt Paul Bosse und seine Familie 1900-1949«.