Beschreibung
Es geht in diesem Buch um die Emanzipation der Gebärden vom Logozentrismus der Sprache. Intersubjektiv geteilte Deutungsmuster werden nicht primär in der direkten face-to-face-Kommunikation erworben und aufrechterhalten, sondern über den leiblichen Funktionszusammenhang in die gewohnheitsmäßige Motorik und Wahrnehmung eingeschrieben. Die Aktintentionalität von Alfred Schütz wird zu einer fungierenden Intentionalität weiterentwickelt. Letztere entfaltet ihre Wirkung nicht über den Bewusstseinsakt eines aktiven Ichs, sondern über die Passivität des Leibes. Es wird auf diese Weise eine phänomenologische Praxistheorie entworfen, in der Gesten und Mimik als eigenständige Handlungen intersubjektiv zugänglich sind. Die Autorin hat einen theoretischen und methodologischen Ansatz für die hermeneutische Videoanalyse entwickelt, der mit dem Konzept der 'Zwischenleiblichkeit' von Maurice Merleau-Ponty arbeitet. Es stellt die konstitutionsanalytische Voraussetzung dar, um Soziali-tät sowohl zwischen Objekten als auch zwischen Körpern begrifflich zu fassen. Mit Bezug auf die 'Zwischenleiblichkeit' wird eine Form von Intentionalität entwickelt, die nicht pri-mär auf den Bewusstseinsvorgängen eines einzelnen Subjekts beruht. Diese so genannte 'fungierende Intentionalität' ermöglicht subjektübergreifendes Sinnerschließen und gewähr-leistet, dass Gesten und Mimik auf einer vorbewussten Ebene intersubjektiv zugänglich sind, ohne dass in der Situation Sprache verwendet werden muss. Visuelle Verhaltensäußerungen werden aus dem Logozentrismus von Sprache gelöst und als eigenständige Handlungen anerkannt. Es wird gezeigt, dass es objektive Gesten und Mimik gibt. Sie zeichnen sich durch einen objektiven Sinngehalt aus, der für eine spezifische Gemeinschaft oder Kultur charakteristisch und auf einer vorreflexiven Ebene zugänglich ist. Aus einer theoretischen und methodologischen Perspektive werden die Merkmale einer so genannten 'bipolaren' phänomenologischen Praxistheorie herausgearbeitet. Außerdem wird aus einer metho-dischen Perspektive präsentiert, wie und wo objektive Gesten und Mimik in der hermeneu-tischen Videoanalyse von Interaktionen zu finden sind.
Autorenportrait
Ulrike Tikvah Kissmann ist seit 2015 Professorin für Sozialwissenschaftliche Methodologie qualitativ-rekonstruktiver Forschung an der Universität Kasse, von 2012-2014war sie Vertetungsprofessorin für Prozessorientierte Soziologie an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Habilitation an der Philosophischen Fakultät III der Humboldt-Universität zu Berlin, Venia Legendi in Soziologie; Dr. phil. am Fachbereich Sozialwesen der Universität Kassel; Aufbaustudium in 'Science and Technology Studies' an der University of Edinburgh, Doppelstudium in Physik und Philosophie. Herausgeberin: Video Interaction Analysis. Methods and Methodology, Frankfurt, 2009.