Dass das Alter eine Geschichte hat, versteht sich für Historiker und Gerontologen von selbst: 'Vom Alter reden' - das ist mindestens antik. Doch dieses Verständnis greift nicht sehr weit, denn kultur- und wissenshistorische Umbrüche werden sicher nicht erkennbar, wenn die Kontinuität von Themen, Motiven oder Genres verzeichnet wird. 'Das Alter lesen' - das ist demgegenüber eine wesentlich modernere Praktik. Und sie erlaubt, dem Alter auch da auf die Spur zu kommen, wo die Veränderungen und Brüche, die mit dem Alter verbunden sind, mehr interessieren, als der Zusammenhang von Gegenwart und Antike. Das Lesen als ein Verfahren, das 'über' historische Texte auf das (implizite) Alter ihrer Verfasser schließen lässt und mehr noch: das Lesen als ein Verfahren, das dem Alter auf unterschiedliche Art und Weise Bedeutung zuweist - dieses Lesen ist eine Praktik, die erst im Laufe der letzten 200 Jahre Konturen gewonnen hat. Die Besonderheit der Dichtung soll durch das Alter ihres Autors erklärbar werden - und damit umgekehrt das Alter erklären können. Diese Praktik lässt sich am besten über eine Genealogie des Alterswerkbegriffs verfolgen. Auf diesem Weg führt sie zu einer Vielzahl kultur- und wissenshistorischer Schauplätze: zur Verbindung von Ästhetik und Anthropologie im 18. Jahrhundert (Young, Herder, Goethe), zur schmalen Grenze von Physiologie und Philologie im 19. Jahrhundert (Hufeland, Carus), zur Kritik der Moderne bei Dilthey, Simmel und anderen, in die Nachkriegsgermanistik und deren problematisches Erbe sowie in die Gerontologie, die seit den 1950er Jahren schnell an Bedeutung gewonnen hat. Wer einräumt, dass nicht nur die zunehmende Langlebigkeit und rückläufige Geburtenraten, sondern auch kultur- und wissenshistorische Zusammenhänge für die zunehmende Problematisierung des Alters von Bedeutung sein müssen, den vermag das >Lesen des Alters< zu einer Geschichte zu führen, in der mit dem Interesse am höheren Alter zugleich auch die Kontrolle schmerzhafter Brüche und die Normalisierung abgründiger Erfahrungen in den Mittelpunkt tritt.
Zusatztext
Dr. Alexander Schwieren, geb. 1979, Studium der Literaturwissenschaft, Kommunikationswissenschaft und Mathematik in Berlin, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Gießen und Stipendiat am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (Berlin), Forschung zur Geschichte wissenschaftlicher Kommunikation und zur Relevanz ästhetischer Diskurse für die Wissens- und Kulturgeschichte.