Beschreibung
Kein Land setzte im 20. Jahrhundert so vehement auf die ku?nstliche Bewässerung als Mittel zur Ausbreitung staatlicher Herrschaft wie die Sowjetunion. Der Bau von Kanälen und Staudämmen veränderte u?berall im Land des Sozialismus das Zusammenleben der Menschen, ihre wirtschaftlichen Möglichkeiten und ihren Umgang mit der Natur. Das sowjetische Wasserbauprogramm begann 1920 mit Lenins 'Plan zur Elektrifizierung' des Landes und gipfelte 1950 in Stalins 'Plan zur Umgestaltung der Natur'. Ein entscheidendes Element dieser Umgestaltung war Stalins Projekt der Baumwollautarkie, mit dem die zentralasiatische Peripherie in den Prozess der sowjetischen Staatswerdung integriert werden sollte. Zu diesem Zweck waren neue Grenzen und Institutionen, aber auch die Massenmobilisierung der Bevölkerung und vor allem technisches Know-how notwendig. Mithilfe ku?nstlicher Bewässerung sollte eine industrielle Baumwollproduktion entstehen, um die Sowjetunion vom Import dieses wichtigen Cash Crop unabhängig zu machen. In Stalins Sowjetunion beruhte die Staatswerdung nicht allein auf der Neuordnung der Verhältnisse, ihr leitendes Prinzip war vielmehr das Schaffen von Unordnung. Zudem unterminierten Willku?r, Terror und Chaos jegliche Handlungs- und Erwartungssicherheit. Im sowjetischen Baumwollstaat wurde Unordnung zum zentralen Instrument der Herrschaftssicherung. Gleichzeitig machte sie die größte Schwachstelle der Staatsbildung aus. Paradoxerweise definierte die Macht der Unordnung die Durchsetzungskraft des Staates ebenso wie seine eng gezogenen Handlungsgrenzen.
Autorenportrait
Antoine Vauchez forscht und lehrt am Centre européen de sociologie et de science politique (EHESS-université Paris 1 Sorbonne) zur politischen Soziologie und zur europäischen Demokratie. Er war u.a. Gastprofessor an der Columbia University, New York und an der Università degli studi in Rom. Seit Januar 2015 ist er Gastprofessor an der Universität Kopenhagen.