Beschreibung
Leo N. Tolstoi (1828-1910) gehörte zur Klasse der reichen Minderheit in Russland, die die arbeitende Bevölkerung versklavte und ausbeutete. Einige Jahre vor dem Ende der "Leibeigenschaft" kann der junge Adelige seine Beteiligung am Gewaltsystem der Besitzenden kaum noch verleugnen. Er möchte den Armen begegnen, ihnen als aufgeklärter "Patron" helfen und. von ihnen geliebt werden. Doch es fehlt noch die Reife zur Menschlichkeit. Ein Jahrzehnt später tritt Tolstoi als Anwalt der Freigelassenen (Friedensrichteramt) und Gründer von Reformschulen in Erscheinung. Nach Überwindung einer Lebenskrise erhält der Graf Anfang der 1880er Jahre erschütternde neue Einblicke in die Lebenswirklichkeit der Beherrschten. Seine sozialkritischen Schriften finden bald auf dem ganzen Globus den Weg zu einer wachsenden Leserschaft. Das Los der Elenden und ein Leiden am Widerspruch des eigenen Lebens setzen ihn förmlich bis zum letzten Atemzug in Bewegung. Der vorliegende Band der Tolstoi-Friedensbibliothek enthält: die Erzählung "Der Morgen eines Grundbesitzers" (1852-1856); eine Skizze zur pädagogischen Arbeit des Dichters mit den Kindern der Armen ("Sollen die Bauernkinder bei uns schreiben lernen, oder wir bei ihnen?", 1862); zwei sozialkritische Beiträge aus der ersten Phase des Ringens um ein neues Verständnis der christlichen Botschaft ("Über die Volkszählung in Moskau" 1882; "Was sollen wir denn thun?" 1882-1886, Teilübersetzung); Zeugnisse zur Organisation von Nahrungsmittelhilfe und Selbsthilfe 1891-1893 (Die Hungersnot in Russland, Bei den Hungernden, Forderungen der Liebe); den Aufsatz "Muss es denn so sein?" (1900) über einen falschen Kirchenglauben im Dienste der Herrschenden als Hauptstütze ungerechter Verhältnisse; Texte aus den Überlieferungen aller Kulturen und Religionen wider die freche Anmaßung der Reichen (Lesezyklus für alle Tage, 1904-1906); drei Sozialprotokolle des Jahres 1909 ("Der Fremde und der Bauer", "Lieder im Dorf", "Drei Tage auf dem Lande"). - Die Sammlung schließt mit einem Essay der Revolutionärin Rosa Luxemburg über den russischen Aristokraten. TolstoiFriedensbibliothek Reihe B, Band 6 (Signatur TFb_B006) Herausgegeben von Peter Bürger, Editionsmitarbeit: Bodo Bischof, Ingrid von Heiseler, Katrin Warnatzsch